336 Wiedergelesen: Sprache und Schrift – Postmodernes Denken
Aus dem umfangreichen Aufsatz „Postmodernes Denken“ (1) im Blog Nr. 247 habe ich die wichtige Stelle über Sprache und Schrift aus Platons „Phaidros“ entnommen und interpretiert, das heißt verständlich zu machen versucht.
Sokrates berichtet, „erzählt“ (selbst Phaidros bleibt skeptisch, ob alles stimmt, was Sokrates aus dem alten Ägypten der Pharaonen berichtet) von der Entstehung der Schrift. Vormals gab es nur das Hören, Sprechen, Diskutieren, ob etwas gut oder schlecht, richtig oder falsch war. Doch mit der Erfindung der Schrift und des Lesens sei die Unwahrheit ins Spiel gekommen, quasi ein Sündenfall. Das geschriebene Wort braucht nämlich Verstehen, Interpretation, Vertrauen dem Schreiber gegenüber. Es kann nicht auf Fragen antworten, schon gar nicht sich dem Nicht-Verstehen verständlich machen, sich der Lüge gegenüber wehren etc.
Womit wir genau in der Gegenwart sind. Es geht nicht nur um Worte, es geht auch um Zahlen, um die Interpretation von Statistiken zur Corona-Epidemie. Um die richtige Einordnung, Interpretation, Abwägung der Toten zum Beispiel im Vergleich zu anderen Statistiken etwa bei Länder- oder Gruppen-Epidemien wie die Grippe. Ob eine Welt-Statistik, wie sie sich jetzt infolge der internationalen Digitalisierung und Internet-Euphorie entwickelt hat, vergleichbar sein kann mit einer kontinentalen oder auch nur Länder-spezifischen Statistik. Und die sich auf die Daten nur einer einzigen Universität in den USA stützt.
Im Folgenden gebe ich meine Interpretation des Gesprächs von Sokrates mit Phaidros über die Problematik von Sprache und Schrift wieder. Ob man mit Schrift (und Zahl) der Wahrheit näher kommt oder nur mit dem Wort Auge in Auge. Letzteres behauptet Platon. Er schlüpft wieder wie so oft in die Rolle seines geliebten Lehrers Sokrates. Die Erfindung der Schrift führe schließlich nicht zu mehr Weisheit, sondern eher zur Verwirrung. Alles wird mehrdeutig und braucht eine Interpretation bis in die Gegenwart im Jahr 2020 hinein. Nicht zuletzt auch die Zahlen der Wissenschaft. Sage ich.
Wenn meine Beiträge in diesem Blog immer wieder vor den Gefahren einer Technokratie warnen, muss auch deren Zwillingsschwester, die Expertogratie, genannt werden. Auf die Herrschaft mancher Virologen haben wir uns bislang freundlich und wohlwollend vielleicht zu sehr verlassen.
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Dass Sprache und das Festlegen von Sprache durch Schrift allgemein untersucht und in Frage gestellt wird, geht bereits auf Platon zurück. Im Phaidros entdecke ich eine kleine und scheinbar weniger wichtige Stelle, die sich mit dem Problem der geschriebenen Sprache, also der Schrift, beschäftigt und sie gegenüber dem gesprochenen Wort abwägt, ja ihre Begrenztheit und Schwäche unterstreicht.
Der Erfinder der Schrift im alten Ägypten, einer „Kunst“, Theuth, kommt stolz zu König Thamus und ist froh über seine Erfindung. Doch dieser stellt ernüchtert fest, die Fähigkeit zum Erinnern, bislang eine große Leistung der Menschen und eines Volkes ohne Schrift, ginge jetzt verloren.
Noch schlimmer: Das geschriebene Wort könne sich nicht wehren gegen Missbrauch, Missverstehen, Fehldeutungen, Lügen, sagt Platon. – All das, was bei einer verkürzten oder auch entfesselten Sprache, wie sie sich gegenwärtig in den elektronischen Medien durchsetzt, zu einer umfassenden Kommunikationsstörung, Desinformation und Desorientierung führen kann. Ich nenne diese neue Kommunikationsform die „verkürzte, reduzierte Sprache“, die sich rasant ausbreitet, und sie ist eines meiner Hauptthemen immer wieder im Blog.
Sokrates Weißt du, auf welche Weise du einem Gott gefallen wirst in deinem Reden und in deinem Lehren?
Phaidros Durchaus nicht. Aber du wohl?
Sokrates Wenigstens kann ich eine Geschichte darüber erzählen von den Alten. Für ihre Wahrheit tragen diese die Verantwortung.
Phaidros Dann erzähle doch einmal die Geschichte, die du gehört haben willst.
Sokrates Also, ich hörte, in der Gegend von Naukratis in Ägypten sei einer der alten Götter des Landes zu Hause mit Namen Theuth. Er sei der Erfinder der Zahl und des Rechnens gewesen, der Geometrie und Astronomie, außerdem des Brett- und Würfelspiels und namentlich auch der Schrift. Über ganz Ägypten habe als König Thamus geherrscht, bei ihnen heißt er Amon. Zu diesem kam Theuth und zeigte ihm seine Künste mit dem Ansinnen, sie sollten alle in Ägypten eingeführt werden. Thamus fragte nach dem Nutzen einer jeden dieser Künste. Und wie jener seine Erklärungen gab, tadelte er bald, bald lobte er, was ihm gut oder schlecht schien an der Darlegung. So soll er dem Theuth über jegliche seiner Künste eine eingehende Beurteilung für und wider gegeben haben, die nach zu erzählen zu umständlich wäre.
Als er aber bei der Schrift war, sagte Theuth: „Die Schrift, o König, wird die Ägypter weiser und ihr Gedächtnis fester machen; denn als Mittel für Gedächtnis und Weisheit ist dieser Lehrgegenstand von mir erfunden worden.“
Es folgt nun ein bekanntes Argument über Sinn und Nutzen von Technik, anwendbar in unserer Zeit auch auf vieles – Kernenergie, Gentechnik und nicht zuletzt auch Digitalisierung: Die Macher und Erfinder reflektierten zu wenig über die Folgeschäden ihrer Entdeckung, indem sie einseitig nur deren Nutzen sehen. Sie wägen zu wenig das Für und Wider ab und bedenken nicht die Folgen.
Thamus erwiderte: „O du Meister der Kunstfertigkeit, Theuth! Der eine ist im Stande, Künste hervorzubringen, ein anderer sie zu beurteilen, in welchem Verhältnis Schaden und Nutzen sich verteilen werden für die Leute, die sie brauchen sollen. Auch du hast jetzt, als Vater der Schrift, aus Voreingenommenheit das Gegenteil von dem angegeben, was sie vermag. Du hast ihren Schaden nicht bedacht. Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnen. Also nicht ein Mittel zur Kräftigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden“.
Nur die innere „Selbstbesinnung“, innere Reflexion und Einsicht in den Sinn der Worte bewirkt ein Lernen und Verstehen, welches Grundlage jeder Weisheit sei. Und dieses Verstehen der (besser sogar im Dialog gesprochenen) Worte bedarf auch einer anerkannten vermittelnden Autorität, die die Weisheit glaubwürdig weiter geben kann im Sinne einer Erläuterung, einer Tradition. Vieles zu wissen, es in Schriftform gebracht zu haben, bedeutet noch lange keine Weisheit. Es ist nur eine von außen übernommene „Vielwisserei“, die Simulation von Weisheit und Vernunft, eine Schein-Weisheit.
Sokrates (Thamus:} „Von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: Wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang mit Weisheit. Zu Halbweisen geworden sind sie, zu Dünkelweisen, und nicht zu Weisen.“
Phaidros O Sokrates, leicht erdichtest du Geschichten aus Ägypten und aus welchen Landen du immer willst.
Auf den begründeten Einwand von Phaidros, Sokrates erfinde nur Geschichten und Sagen, damit es in sein argumentatives Konzept passe, reagiert Sokrates (nach einem ironischen Schlenker über die angebliche Weisheit der Jugend) mit dem Hinweis, dass Weisheit mit der Überzeugungskraft des Sprechenden als einer Autorität zu tun habe, wer ist dieser Sprecher, aus welchem Land kommt er, wie vertrauenswürdig ist er, kann man seiner Weisheit trauen.
Sokrates Mein Freund, die Leute im Heiligtum des Zeus zu Dodona meinten, von einer Eiche seien zuerst Worte der Weissagung gekommen. Den Menschen von dazumal aber, da sie nicht so weise waren wie ihr jungen Leute heute, genügte es in ihrer Einfalt, auf Eiche und Fels zu hören, wenn diese nur Wahres erzählten. Für dich jedoch ist es wohl nicht gleichgültig, wer der Erzähler ist und aus welchem Land er kommt. Denn nicht danach allein fragst du, ob es sich so verhalte oder anders.
Im Folgenden kommt die Zentralstelle der Argumentation von Sokrates: Schriftlicher Aufzeichnung (als einer Kunst und Handlungsanweisung) kann nichts Deutliches und Sicheres im Sinne einer Weisheit, das ist auch im Sinne einer wahren Aussage über Schönheit und Gerechtigkeit entnommen werden. Geschriebenen Worten könne sogar noch eine weiter gehende Bedeutung im Sinne von Mehrdeutigkeit beigelegt werden, über die sich Sokrates jedoch an dieser Stelle nicht auslässt. Stattdessen verdeutlicht er die Gefahren, die von gelesenen Sätzen ausgehen können: Anders als beim gesprochenen Wort können sie nicht auf Fragen antworten. Sie bleiben stumm, leben nur in der subjektiven Interpretation des Lesenden.
Sokrates Also, wer da meint, in schriftlicher Aufzeichnung eine Kunstanweisung zu hinterlassen und andererseits, wer solche annimmt in dem Glauben, es könne etwas Deutliches und Sicheres schriftlichen Aufzeichnungen entnommen werden, dürfte mit großer Einfalt behaftet sein und wirklich die Weissagung Amons nicht kennen, indem er geschriebenen Worten eine weiter gehende Bedeutung beilegt als die, Wissenden zur Erinnerung zu dienen an die Dinge, worüber die Aufzeichnungen handeln.
Denn das ist wohl das Bedenkliche beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren ihre Bilder in gar würdevollem Schweigen. Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: Du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an.
Noch schlimmer: Wer sagt denn, dass solche Aufsätze gerade geeignet sind für diesen Lesenden? Worte, Sätze und Texte „treiben sich wahllos herum“, sind überall und bei jedem, berücksichtigen aber nicht die Lese- und Verstehensfähigkeit der Lesenden; sie passen, passen aber auch manchmal nicht zu diesem Menschen und in diesen Kontext.
Wer von den Modedesignern wird etwas von der Ingenieursprache verstehen, verstehen wollen? Wer von den Theologen interessiert sich für die Kunst des Krieges? Wittgenstein nennt dies das Sprachspiel, in dem man sich befindet. Und Sprachspiele haben ihre „Heimat“, ihren Kontext in Lebensformen, in denen man ganz individuell und jeweils andersartig aufgewachsen ist. Nur so ist Verstehen möglich. Wenn nicht muss der „Vater der geschriebenen Worte“ befragt werden, „denn das Wort selbst kann weder sich wehren noch sich helfen”. – Doch dieser Vater der Worte ist meist nicht oder nicht mehr vorhanden.
Sokrates Und dann: Einmal nieder geschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genauso bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht.
Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechter Weise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.
Was wäre die Alternative, wenn Worte und Texte so schwach, falsch, mehrdeutig, immer anders gelesen werden können je nach Fähigkeit und Herkunft der Lesenden? – Sokrates und Platon berufen sich auf das gesprochene Wort. Ein Wortwechsel unter Sprechenden kann Missverständnisse im Verstehen und Hören schnell beseitigen, kommt der Wahrheit und Weisheit bedeutend näher, auch wenn rhetorische Tricks ein Problem sein können und in der Politik Populisten Tür und Tor damit offen zu stehen scheinen. Nicht zuletzt hat sich schon zu Platons Zeit mit den mächtigen Sophisten eine Isosthenie gebildet, als wenn man mit Sprechen, Gesten und Emotionen der Wahrheit und Weisheit näher kommen könnte. Manchmal gerade nicht.
Sokrates Doch sehen wir nach einem anderen Wort, dem leiblichen Bruder von jenem geschriebenen, und beachten wir, auf welche Weise dieses zu Stande kommt und wieviel besser und wirkungsvoller es seiner Natur nach ist als jenes.
Phaidros Welches wäre das und wie entsteht es?
Sokrates Das, welches mit Sachkenntnis aufgezeichnet wird in der Seele des Lernenden, fähig zur Selbstverteidigung und kundig des Redens und Schweigens je nach Umständen.
Phaidros Von dem lebendigen und beseelten Wort des Wissenden sprichst du, wovon das Geschriebene mit Recht als eine Nachbild nur bezeichnet werden könnte.
aus: Platon, Phaidros (Kapitel LIX – LXI) – Übersetzung Otto Apelt
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Was bedeutet das nun für die gegenwärtige Kommunikations-Problematik im sozialen Diskurs der Gegenwart, die sich wieder in einem radikalen Umbruch befindet wie vielleicht vor der Reformation, als alle Menschen jetzt lesen lernen konnten? – Ich denke, Kurznachrichten im Sinne eines reduzierten und verkürzten Sprechens können tatsächlich zum Problem werden. Nicht immer, denn auch hier bilden sich Isosthenien; aber doch dann und wann. Termine über SMS oder Waht’sApp zu bestätigen, scheint unproblematisch. Jedoch bereits eine einfache Botschaft wie: “Ich kann leider heute um 17h nicht kommen, ich melde mich“ ist offen für kommunikationspsychologischen Ärger. Es gibt kein direktes und schnelles Nachfragen mehr, die emotionale Stimmungslage ist unklar, wie antworten etc. Wichtige Dinge sollten m.E. deshalb immer Aug’ in Auge besprochen werden.
Über die Problematik beim Verstehen ganzer Texte und ihrer Interpretabilität habe ich schon öfter geschrieben. Insbesondere für die postmodernen Philosophen ist gerade die Mehrdeutigkeit von Sprache und Sinn, die permanente Notwendigkeit zur Interpretation auch von Gesten, Emotionen und Unbewusstem ein ganz besonderes Thema.
Doch auch im alten Ägypten konnte die Uhr nicht zurück gedreht werden. Die Schrift entwickelte sich weiter und weiter bis hin zu Platon selbst mit einer eigenen Mehrdeutigkeit und Missverständlichkeit in seinen Werken, den Übersetzungsproblemen samt Fehl- und Missdeutungen seiner Philosophie bis in die Gegenwart hinein. Was selbst die analytischen Philosophen nicht verhindern können, wenn sie uns eine Standardsprache dogmatisch vorschreiben wollen, sogar andere als die technisch naturwissenschaftlichen Gebiete betreffend.
Das gesprochene Wort bleibt gleichwohl oft eine Alternative, auch wenn selbst diese mit rhetorischen Tricks letztlich doch wieder in Frage gestellt werden kann. Siehe den gegenwärtigen Einfluss von Populisten, die sich sogar ihrer Unwahrheit und Lügenhaftigkeit brüsten und ein neues Zeitalter jenseits der Fakten, jenseits der Wahrheit mit „alternativen Wahrheiten“ ausrufen möchten („Post-Faktizität”) – Willkommen im Zeitalter von Lüge, Simulation, Schein und Unwahrheit!
Vgl. auch “Vom Denken” (III) – Über das Absurde im Denken und in der Argumentation (Nr.46)
Alle Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282