362 Platons Ideenhimmel und seine Brüche
Bücher von Reinhold Urmetzer im Blog die Nummer 282
Abstrakte Begriffe wie Nation, Vaterland oder Selbstverteidigung sind meines Erachtens meist ungeeignet, einen Krieg, der festgefahren ist im Totschießen, zu bekämpfen, zu befrieden. Im Namen von Abstraktionen hat es immer wieder Streit und sogar heftige Kriege gegeben. Selbst um den richtigen Gott und die richtige Religion ist schon vor bald 400 Jahren im 30jährigen Krieg lang und infolge neuer Waffen heftig gekämpft worden. Mit Kollateralschäden, die ganz Europa gespalten haben bis in die Gegenwart hinein.
Dennoch sind Abstraktionen auch notwendig für die Kommunikation. Nur vom konkreten Detail auszugehen verlangsamt jede Entscheidung und führt letztlich oft nur immer weiter in die Falle der Isosthenie (Gleichwertigkeit). Die wichtigsten und notwendigsten Abstraktionen lassen sich im Ideen-Himmel Platons finden: Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit. Das sind Leitsterne in unseren Gesprächen und Entscheidungen, die nach Platons Glaube von Gott in die Welt gesetzt worden sind, denn sie zeigen den Weg hin zum Guten; und das Gute ist und kommt von Gott. Gott war bei Platon nicht Zeus; er war eine rein geistiges Phänomen. Der Olymp war nur ein schwaches Bild seines Aufenthaltsortes wie später auch der christliche Himmel, der nirgendwo gefunden werden konnte.
Zu diesen leitenden Ideen der mentalen Evolution hat das Christentum erst ein halbes Jahrtausend später die Idee der (geistigen) Liebe hinzu gefügt. Nachdem die römische Kultur und Gesellschaft durch ewige Kriege so dezimiert und erschöpft war, dass sich die Idee der Liebe zu einer überzeitlichen und geistigen, also auch göttlichen Idee hat entwickeln können. Dass und warum diese geistige Liebe, die mehr ist als nur die Nächstenliebe, in unseren Zeiten mittlerweile zu einer Idee der Lust, einer Idee der Macht und sogar des Ökonomismus degeneriert ist, das ist eine andere Frage.
Jetzt wird es Zeit, dass auch die Idee des Friedens nach zwei verheerenden Weltkriegen in die Herzen und Seelen der Menschen eingepflanzt werden muss. Wie das gehen soll?
Meine Generation ist ein bestes Beispiel dafür. Es gab viele Jahrhunderte lang einen geopolitischen „Erzfeind“ der Deutschen, die Franzosen. Erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts haben Adenauer und de Gaulle, die beiden Staatenlenker, einen Vertrag zur gegenseitigen Völkerfreundschaft ausgehandelt und diesen mit Schwung und Tatkraft durchgesetzt. Mit dem Ergebnis, dass ich mich als Saarländer weder eindeutig als ein Deutscher noch eindeutig als ein Franzose gefühlt hatte. Und das war gut so. Ein berühmter Saar-Mensch ist bis heute immer noch Napoleons Marschall Ney, zu dessen Geburtshaus in der von Ludwig XIV gegründeten Stadt Saarlouis in der Nähe von Saarbrücken immer noch zahlreiche Franzosen pilgern. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag gründete sich sehr stark auf die Erziehung der Jugend: Gegenseitige Besuche und Freundschaften bildeten sich, das Neue und Andere war gerade nicht mehr das Angst-Machende, sondern das Faszinierende. Schließlich wurden die Wirtschafts-Grenzen, dann auch die politischen Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich geöffnet – die Keimzelle der europäischen Union (EU) war geboren.
Nie konnte ich mir vorstellen, dass ich einmal wieder wie mein Großvater im 1.Weltkrieg in der Schlacht von Verdun auf einen Helm mit französischen Menschen hätte schießen müssen, hätte können. D.h. die Idee des Friedens, die so tief in mir und meiner Generation lebt, ist eine gesteuerte, anerzogene Idee, von der ich immer noch sehr überzeugt bin und wovon wir alle profitieren.
Durch Erziehung und Gewöhnung sind uns ebenso die weiteren platonischen Ideen, selbst die Isosthenien (Gleichwertigkeiten) eingepflanzt worden: Die Idee der Wahrheit, indem man nicht zuletzt auch die Problematik der Wahrheitsfindung, auch ihrer Relativität untersucht und erkannt hat. Die Idee der Gerechtigkeit, indem man moralische Werte aufstellt, zum Beispiel dass Mord und Todschlag ebenso bestraft werden müssen wie Völkermord oder Kriegsanzettelung. Die Idee der Schönheit, dass auch das, was Körper und Geist, nicht zuletzt auch die Seele als beider Verbindungsglied anspricht, überzeitlich, also auch göttlich sein kann. Und letztlich auch, dass das Streben nach den Ideen eine Leitfunktion im menschlichen Denken, eben ein Grundgesetz unserer Weltkultur ist.
Einschließlich auch der Gottes-Idee: Dass wir unermüdlich streben und suchen und forschen werden, wer oder was und wo Gott ist. Und dass wir diese Frage in der jetzt folgenden Analogie ebenso wenig beantworten können wie die Ameisen: Ebenso wie diese in ihrer „Staats-Ordnung“ keine Vorstellung vom Menschen haben können oder die Blumen nichts wissen können von Tieren mit Ausnahme ihrer „ Feinde“, das Ungeziefer, welches von den Pflanzen zum Selbst-Schutz bekämpft werden kann, ebenso ist der Mensch unfähig Gott zu erkennen. Dieses Denken geht auf den Mathematiker-Philosophen Blaise Pascal zurück, der verschiedene Ordnungen mit eigenen Gesetzen und Fremdheiten in Welt und Mensch und Gesellschaft definiert hat. Dass es der menschlichen Vernunft nicht möglich sein kann, Gott und das Weltall zu erkennen, zu definieren. Aber auch hier gilt die Isosthenie: Dass die menschliche Vernunft dennoch die Existenz Gottes von Fall zu Fall zu beweisen ebenso wie zu widerlegen imstande ist. Und dass das „Erkennen mit dem Herzen“ nach Pascal etwas anderes ist und sein kann als das Erkennen mit dem Verstand oder der Vernunft.
Die Idee von Gott bedeutet nur immer wieder: dass es etwas gibt, das größer, stärker und mächtiger ist als wir selbst und unsere künstlichen Intelligenzen. Dass wir uns nicht selber in die Welt gesetzt haben und uns auch nicht selber aus der Welt nehmen können (theoretisch). Weil wir ein Schicksal haben, das unseren Weg leitet, mit uns, aber oft auch ohne unser Zutun. Dass wir also am besten den Begriff Gott gar nicht zu definieren versuchen. Es reicht, wenn wir unsere Begrenztheit einsehen und die Schwäche unseres Geistes und unserer Erkenntnis akzeptieren. Dass also letztlich der Tod als allmächtige Grenze immer wieder beweist, dass es Gott gibt.
Platons Ideen sind weiterhin leuchtende Sterne am Himmel unserer Erkenntnis. D.h. die Ideen von Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, neu hinzugefügt die Ideen von Liebe und Frieden werden unser Denken und unsere Sprache leiten, sofern es noch Denken und Sprache zukünftig wird geben können.
Die Begrenztheit des menschlichen Geistes, auch seiner Handlungsfähigkeit, und die in den Abstraktionen selbst liegenden Isosthenien (Mehrdeutigkeiten) führen jedoch immer wieder zu Unfrieden. Das bedeutet, die Aufgabe der Friedenssicherung ist zusammen mit dem Aushalten von Gegensätzen und Gleichwertigkeiten die höchste Aufgabe im gesellschaftlichen Zusammenleben.
Dass es Wahrheit gibt und nicht gibt, Eindeutigkeit gibt und nicht gibt, oft immer nur von Fall zu Fall. Dass alles relativ bleiben kann auf Zeit, Gesellschaft und Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen – das ist die schlimme und schwierige Situation des Menschen, der vielleicht tatsächlich in einer eher unerkennbaren Ordnungs -Stufe zu leben gezwungen ist und trotz allem „ Fortschritt“ in dieser seiner Begrenztheit gefangen bleibt wie die Tiere, die Pflanzen, selbst die Steine und alle Materie. Auch das Weltall samt seinen vielen sichtbaren und unsichtbaren Gottheiten hat seine eigene Ordnung, die wir nur von Fall zu Fall entschlüsseln können. Und dass es diesseits und jenseits der Pascalschen Ordnungen oder Systeme vielleicht sogar viele weitere geben kann, die zu erkennen wir nicht imstande sind.
Ich wiederhole mich: Die Idee der Wahrheit schließt also letztlich auch ein, dass alles Gedachte, Erkannte oder sogar „Gefundene“ (würde Platon sagen)falsch sein kann in unserem Denken, dass es gleichwertige Wahrheiten gibt und dass man trotzdem weiter leben kann und muss, ohne dabei den anderen zu bekämpfen oder totzuschießen. Das Andere, Fremde, Neue und Unbekannte ist überall. Immer wartet es auf sein „ Entdeckt-Werden“. „Fortschritt“ wird so zum „Fort-Schreiten“ ins Andere, ins Neue hinein.
Die Idee der Isosthenie, also der Gleichwertigkeit von Gegensätzen, ergänzt das Kommunikationsmodell von Jürgen Habermas* und Karl Otto Apel um die Tatsache, dass die Idee des Konsenses, die auch im politischen Diskurs sehr erfolgreich eingeführt und programmiert worden ist, die eigene Antithese einschließt. Das Konsens-Modell schließt also auch seine Negation mit ein, dass es auch Ablehnungen dieses Modells mit guten Gründen geben kann. Das bedeutet, dass es auch Momente gibt, in denen Gegensätze, die gleichwertig sind, jeweils ausgehalten werden müssen. Das sind dann fast schon alltägliche Zustände der Unabwägbarkeit, der Unsicherheit und auch des Unfriedens.
Erfreulicherweise dauern jedoch solche Zustände nicht immer lange, meist senkt sich die Waage von Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit doch irgendwann einmal eindeutig in eine Richtung. Und die Richtung ist immer im Sinne der Evolution eine gute, so glaube ich, und nicht eine negative, der Untergang. Auch wenn umgekehrt das MenschenSchicksal scheinbar in Richtung Untergang tendiert, zumindest was den Tod und das Ende betrifft. Vielleicht stimmt auch die These, dass selbst der Tod nicht das Ende des Lebens bedeuten muss, auch nicht des eigenen Lebens. Irgendwie wird es vielleicht doch weitergehen.
Doch auch die Isosthenie unterliegt ihren eigenen Gesetzen: dass es eine Isosthenie wieder zur Isosthenie geben kann und die Eindeutigkeit damit wieder hergestellt wird. Ebenso wie es auch den perfekten Zweifel nicht geben kann: Denn der perfekte Zweifel schließt auch den Zweifel mit ein, also das Zweifeln am Zweifeln, und wir sind dann wieder bei der Zweifels-Freiheit, dem Freisein vom Zweifel, also bei der Gewissheit über unser Urteil, der Eindeutigkeit. Diese Begrenztheit in der Sprach-Logik haben bereits in der griechisch- römischen Antike die Skeptiker in der platonischen Akademie aufgedeckt. Sextus Empirikus hat mehrere Bücher darüber geschrieben.
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*Jürgen Habermas war eine Zeitlang der Stichwortgeber und Hof-Philosoph der SozialDemokratie in Deutschland und Europa. Seine Antithesen waren und sind bis in die Gegenwart hinein die Scientisten in Oxford und die Behavioristen in den USA.