100 Über Karlheinz Stockhausen
Im Turm der Glasperlenspieler
Ist die Zeit bereits über Karl-Heinz Stockhausen, den ideenreichen Musikingenieur und Tonmagier, Spiritus rector einer ganzen Komponistengeneration und maßgebliche Gestalt der modernen Musik, hinweg gerollt?
Seine Vorstellungen von Fortschritt finden nicht mehr allgemeine Zustimmung: im Zeitalter von Überkomplexität ist Einfachheit und Komplexitäts-Reduzierung gefragt (das Ende der Fiktionen), und nach der weltweiten Auseinandersetzung um den Positivismus hat sich selbst der Strukturalismus nun zu „Dekonstruktion“ und „Destrukturierung“ überreden lassen, etwa von den Philosophen Jacques Derrida oder Jean Baudrillard. Sie begeistern mit ihren Wissenschafts-anarchischen Ansätzen mittlerweile die akademische Jugend mehr als alle orthodoxen Theorien zwischen Marx und Freud.
Selbst die erzieherischen Hoffnungen Stockhausens, Musik als Lehr- und Erkenntnismittel aufzufassen, „dass spätere Menschen genauere und kompliziertere Prozesse hören werden als die heutigen, dass durch diesen ständigen Prozess der Wahrnehmungserweiterung die Menschheit eine Evolution durchmacht, damit intelligentere und musikalischere Menschen auf diesem Planeten entstehen“, diese aufklärerischen Gedanken werden angesichts dringender und nahe liegenderer Probleme nicht mehr von allen Menschen für wichtig befunden.
Das umfangreiche Werk und die komplexe Ideenwelt des Komponisten scheinen deshalb frei schwebend und wie ein erratischer Block durch die Zeit zu irrlichtern, von vielen bestaunt, von manchen angezweifelt, von wenigen nur bekämpft. In den frühen siebziger Jahren zählte der Musiker im anglo-amerikanischen Raum zu den Popstars, seine „psychedelische Musik“ stand in den Schallplattenregalen in London gleich neben der Gruppe Steppenwolf und den Rolling Stones.
Aber auch hier hat sich mittlerweile der Geist gewendet, und nur noch eine kleine Gemeinde von Wissenden, Musikforschern, Geschichtsschreibern und New-Age-Esoterikern hält dem Komponisten die Treue – für die Anhänger des Wassermann- Zeitalters zählt Stockhausen bereits zu den zukünftigen Meistern.
Dass seine Musik eine beeindruckende Musica reservata ist, die gleichwohl jedoch nur auf einen kleinen Wirkungskreis beschränkt bleibt, das können auch Stockhausens gegenteilige Beteuerungen über ausverkaufte Konzerte in London oder Fernseh- Sendungen vor einem Millionenpublikum nicht entkräften.
Der Südfunk Stuttgart und sein Redakteur Clytus Gottwald haben dem Kölner Musiker eine ganze Woche als „Atelier“ zur Verfügung gestellt. Die sechs Abendveranstaltungen waren meist gut besucht, das Gesprächskonzert in der Musikhochschule Stuttgart überquellend von einem gespannt lauschenden jungen Publikum. Wesentliche Stationen der Musikgeschichte seit den fünfziger Jahren konnte der junge Zuhörer innerhalb dieser Tage Revue passieren lassen und sich als Nachgeborener so ein eigenes Urteil bilden.
Konstant ist im Denken Stockhausens bis heute der Ansatz geblieben, von abstrakten Strukturen auszugehen und die so entstandene musikalische Konstruktion dann vielfältig abzuwandeln, zu verändern, zu brechen oder selbst in ihren Gegensatz umschlagen zu lassen. Absolute Determinierung wie in der seriellen Musik wird unter dem Einfluss von John Cage etwa in den sechziger Jahren zur stochastischen Freiheit und Improvisation, die starre Reihenorganisation schlägt um in eine meditative Musik oder mittlerweile sogar in eine mystisch-mythisch begründete Tonmagie.
Gestische und musiktheatralische Aspekte sind von Stockhausen bereits im „Zyklus für einen Schlagzeuger“ aus dem Jahre 1959 eingeführt worden. Der Komponist will nach eigenen Angaben alle Parameter von Musik und Musik-Wahrnehmung mit einbeziehen und sichtbar werden lassen, wozu auch gestische Aktionen gehörten. Im Studiosaal des Süddeutschen Rundfunks bewegt sich deshalb Mircea Ardeleanu als virtuoser Solist immer schneller im Kreis (Zyklus), was ihm in der Partitur vorgeschrieben ist. Im Fall der Musik-Wahrnehmung verlangt Stockhausens Konzept, dass auch Farben und Düfte mit einbezogen werden, selbst über eine angemessene Verwendung des Tastsinnes bei der Musik-Rezeption denkt der Komponist nach.
Auch ein geeignetes Ambiente gehört bei allen Konzerten zu den notwendigen Äußerlichkeiten: Subtil sind die Interpreten ausgeleuchtet wie bei einer Talkshow, sorgfältig gekleidet und geschminkt treten sie auf die Bühne, nicht zuletzt zeichnen sie sich meist auch noch durch eine besondere körperliche Schönheit aus. So war der Erfolg der „Traumformel“-Aufführung in Stuttgart nicht unwesentlich ein Verdienst von Suzanne Stephens und ihren Showelementen, die Stockhausen ganz im Gegensatz zu seinen anderen Kollegen ohne Scheu immer wieder geschickt einzusetzen pflegt.
Der Gesamtplanung von „Licht“, einem umfangreichen Projekt, liegt eine Superformel zugrunde, eine dreischichtige, aus drei überlagerten Melodieformeln gebildete und in sieben Abschnitte gegliederteTon-Konstruktion, die den sieben Teil-Opern der Woche entsprechen. Den drei Melodie-Großformeln entsprechen die drei Hauptfiguren der Opern, die als Sänger, Instrumentalisten oder als Tänzer auftreten können, Michael, Luzifer und Eva. Michael steht für die Donnerstag-Oper, Luzifer, im Übrigen eine positive Gestalt, für den Samstag, und Eva für den Dienstag, den Tag des Mars und des Krieges.
Der Komponist erläuterte in Stuttgart ausführlich und gut gelaunt sein Monumental-Opus, stellt auch weitere Pläne für die Zukunft vor, die sich alle mit zwingender Logik ergäben: Nach der Sternenkomposition („Sternklang“), den zwölf Monaten des Jahres („Sirius“) und den sieben Tagen der Woche („Licht“) beabsichtigt er, noch die 24 Stunden des Tages zu komponieren (etwa als Morgenfeier oder als Mitternachts-Meditation); dann die Minuten und schließlich auch noch die Sekunde – in diesem Fall unter Miteinbezug eines 600-Kanal-Tonbandes, sofern das Gerät bis dahin entwickelt worden sei. –
Mit der „Gruppen“-Komposition für drei räumlich getrennt aufgestellte Orchester aus den Jahren 1955-57 und den „Kontakten“ aus den Jahren 1948-60 für präpariertes Tonband und zwei Musiker hat vielleicht die technizistisch orientierte Musik, die ebenso sehr auch Ausdruck eines allgemeinen Gründerzeit-Optimismus ist, welcher konstruiert (konstruieren muss), organisiert, alles strukturell für machbar hält und zu bewältigen glaubt, einen einsamen Höhepunkt erreicht. Ihre Antinomie liegt in der Tatsache, dass dieser so modern denkende Rationalismus bester Ausdruck der Nachkriegs-Gesellschaft war auf ihrem Weg in die Technokratie, die gefangen bleibt in ihrem eigenen Netz und die sich erst jetzt wieder daraus zu befreien sucht, ohne das Gegenbild dabei auszuschließen („alles geht“).
Der Strukturalismus in der Kunst (gleiches gilt auch für die Malerei und Literatur, selbst für die Philosophie) abstrahierte sowohl von den Bedingungen der Adressaten, ihren Erwartungen und Gewohnheiten, als auch vom historischen Kontext seiner Entstehung. Geschichtslos versuchte er im Aufstellen von abstrakten Reihen und Konstruktionen, seien sie auch noch so kunstvoll gebrochen, tabula rasa zu machen im Glauben, ex nihilo einen Neuanfang und eine schöne neue Welt der Kunstgriffe wie Strukturen bauen zu können; vergeblich, wie vor allem die moderne Architektur mit ihrem internationalen Stil bewiesen hat.
Werte und Kriterien der Nachkriegszeit haben mittlerweile vielerorts ihre Bedeutung und Relevanz eingebüßt:
Das Verdrängen der Vergangenheit, als hätte sie nie existiert, ist mit einer neuerlichen Hinwendung zur Vergangenheit beantwortet worden („Zurück nach vorn“). Die Rationalisierung von Gefühlsausdruck und Stimmung hat mittlerweile einen exzessiven Emotionalismus in der Malerei, Architektur („Noch mehr Schein“), Theater („Noch mehr Spaß“) und Populärmusik provoziert. Und der stramm disziplinierte Blick nach vorn, „Fortschritt“ und Avantgarde im Auge, ist einer skeptischen Desillusionierung, nicht zuletzt auch der Angst vor eben diesem Fortschritt und eben diesen Avantgardisten gewichen.
Das Erlöschen und Ende impliziert also in einer solchen Musik den Abschied vom Strukturdenken und das Ende der klug ausgetüftelten Reißbrett-Konstruktionen. Er geht parallel mit dem Abschied von einem aufklärerischen Rationalismus, der ohne Sinn und Zweck weiter produziert, das heißt: neben und außerhalb der Welt und gesellschaftlichen Krise sich befindet.
Es ist der Abschied auch von der Geschichtslosigkeit: Abstrakt etwas Neues auch ohne Berücksichtigung der Menschen, ihrer Gewohnheiten und ihrer Geschichte erfinden zu können – das schwere und undankbare Erbe der rigiden Dogmatik Arnold Schönbergs.
Was bleibt, ist das reine Selbstbewusstsein dieser Kunst und dieses Denkens, keine Gegenbilder, Alternativen oder Fragestellungen duldend – die Einsamkeit der Glasperlenspieler im Zukunftsturm, neben welchem der Adler Thomas von Aquins oder die Eulen der Minerva nicht zuletzt doch den Horror vacui hervorrufen können.
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Der Aufsatz ist in erweiterter Form erstmals erschienen in der „Neuen Zeitschrift für Musik“(Schott-Verlag). Er wurde darüber hinaus auch in englischer, französischer und spanischer Sprache publiziert durch „Inter Nationes“(Bonn) : „Kulturchronik – Nachrichten und Berichte aus der Bundesrepublik Deutschland.“für Carol Morgan
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