111 Zeitenwende
- Über Amerikanismus und Post-Amerikanismus
Ich habe eine Formulierung im Gespräch gehört, die mir neu war. Ein junger Mann fragte mich eher beiläufig, ob diese Kunst schon im dritten Jahrtausend hergestellt worden sei. Er denkt also nicht wie ich in Begriffen wie das vergangene zwanzigste oder das zukünftige 21.Jahrhundert, sondern eher offen und fast schon positiv besetzt in Jahrtausenden. Das, was mir eher Angst und Sorge macht, wird jetzt als selbstverständlich spannend und positiv angesehen.
Die Zukunft ist das Vorrecht der Jugend. Im Denken, dass das Alte vergangen ist und vergangen bleiben soll. Dazu zählt wohl auch die vielleicht trügerische Hoffnung, dass das Handeln in selbstmörderischen Religionskriegen, rassistischen Völkermorden und nationalistischen Verblendungen endgültig ausgestorben sein wird. Dass die schöne neue Welt von Digitalisierung und Amerikanismus ein neues Zeitalter von Frieden, Wohlfahrt und Glückseligkeit mit sich bringen wird.
Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob Glück und Wohlergehen überhaupt noch als Gefühl wahrgenommen werden können. Die gegenwärtig insbesondere von den jungen Männern so sehr geschätzte und gepflegte Coolness hat nämlich in meiner Sicht der Dinge zu einer Verkümmerung der menschlichen Fähigkeit zum Fühlen, Mitempfinden und Einfühlen geführt. Auf die Frage, wie man sich fühle, wissen viele der jungen Männer, die ich befragt habe, gar keine Antwort zu geben. Liebe in Gegensatz zum Sex – ein nostalgischer Anachronismus. Der soldatische Mann will wieder zurück kommen in diese unsere von Wettkämpfen beherrschte und bodygezüchtete Welt, hart wie Kruppstahl.
Selbst der Sex ist kein Gefühl mehr, sondern eher nur noch reine Tätigkeit, scheint es. Eine Tätigkeit, die mehr den Narzissmus als den Körper des Mannes befriedigt (ich rede meist immer nur aus der männlichen Perspektive). Und das Übermaß an schnellem Sex führt nur noch mehr zu Einsamkeit und Vereinzelung. Ich frage mich bei diesen illustren One Night Stands, die wohl ein Zwischending zwischen kostenloser Prostitution und fester Beziehung sind, welche Funktion sie besitzen. Ob sie eher Liebe oder eher Lust im Sinn haben – wohl eher das Letztere. Selbst wenn die Empfindungsfähigkeiten in einen Zustand der Verkümmerung bei manchen abgedriftet sind.
Dieser junge Mann bekennt sich auch wie selbstverständlich dazu, dass er eine Maschine sei und sein wolle. Er ist ein Digital Native, kommuniziert mehr mit seinen Apparaten als mit Menschen. Nein, einsam fühlt er sich dank Facebook & Co nicht. Coolsein ist angesagt und dass es hinter ihm bereits zu schneien anfängt, lächelt er mir zu. Oder dass alles zu Eis erstarrt. Seele, Gott, Gerechtigkeit – was sollen diese Begriffe? Nicht digitalisierbare Malerei, handgeschriebene Papierseiten, der Klang einer Geige – wen kümmert‘s, wer möchte das noch sehen oder hören?
Ein anderer junger Mann, diesmal aus Russland, versteht meine Moral nicht mehr. Nein, er ist nicht monogam, will es gar nicht sein. Er hat wechselweise mit unterschiedlichsten Frauen jeweils ONS ohne Skrupel oder Gewissensbisse. Genitalkontakte fast wie eine bessere Masturbationsmaschine. Aber die Zeiten haben sich doch geändert, wir leben im 3.Jahrtausend, erwidert er fast vorwurfsvoll auf meine Bedenken hin. Nein antworte ich, ich kann das nicht, ich bin monogam. Ich möchte zuerst wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich mich auf das Gegenüber einlasse. Ich definiere mich nicht durch mein Genitale, reduziere meine Fähigkeit zur Begegnung nicht auf den schnellen Austausch von Körperflüssigkeiten.
Ich lebe sogar in und für eine Familie. Im Idealfall sogar für eine Großfamilie. Undenkbar für einen Menschentyp, der nur noch seinen wie auch immer gearteten Spaß genießen will. Mein Sohn wird nicht wechselweise mit drei Vätern oder Müttern aufwachsen müssen. Patchwork-Familie ist ein Euphemismus, eine Notsituation, auch eine Schwäche. Besser setzt man keine Kinder in die Welt als sich und sie solchen Strapazen auszusetzen. Doch die Natur will nur das Eine und das Leben will leben. Es kümmert sich wenig um Kollateralschäden und soziale Verwerfungen, sondern nur um die Fortpflanzung der Art.
Wenn man keine Gefühle mehr wahrnimmt, stundenlang vor flimmernden Apparaten sitzt, sich mit Ihnen vergnügt, seinen Samen irgendwann einmal in der Zukunft auch abgeben wird an die Zuchtanstalten der Stadt, freundliche Gespräche führt mit Siri und anderen – dann ist man tatsächlich in einem neuen Zeitalter, zu einem Objekt geworden in der Welt der Dinge. Man spielt und vergnügt sich mit anderen Mensch-Objekten und Maschinen, weil man selbst zu einer Maschine geworden ist. Irgendwann stellt man auch Fühlen und Sensibilität ganz ein. Vielleicht sogar das Wollen. Man funktioniert. Vielleicht nur noch auf Knopfdruck.
Wenn ich mir die populären und preisgekrönten amerikanischen Filme oder Serien anschaue, dann wird unsere Zeit und Kultur nur noch von Spaß, Ironie und Zynismus beherrscht. In meinen Augen die permanente Verzweiflung über die Unfähigkeit, sinnvoll leben, sinnvoll lieben zu können trotz oder gerade auch wegen diesem großen und übermächtigen Wohlstand.
Fast verständnislos lächelt der junge Mann mich an. Aber wofür leben Sie denn, fragt er mich. Doch für den Spaß? – Nein, sage ich, Spaß und Lust stehen nicht an erster Stelle bei mir. Auch nicht das Glück.
Ich glaube immer mehr, dass wir wieder an einer Zeitenwende stehen. Die einen blicken nach vorne, die Jungen, Mutigen, Neugierigen, denen trotz Angst und Sorge meine ganze Sympathie gehört, auch wenn ich nicht mehr dazu gehören kann.
Die anderen blicken zurück, wehmütig vielleicht, und sie suchen sich aus dem Vergangenen von Kunst, Moral, Politik oder Religion noch die wenigen verwertbaren Bruchstücke und Splitter, welche die Gegenwart mit ihren Änderungen, Brüchen und Verwerfungen erträglicher werden lassen.
Es ist eine neue Welt nicht nur der Zukunft, über die ich schreibe, sondern auch der Vergangenheit in ihrem Endstadium des Auseinanderbrechens. Denn auch hierzulande sind wir uns oft fremd geworden, und fremd leben manche nebeneinander her und vor sich hin. Allein gelassen von wem auch immer, ohne Schutz, Sprache und Vertrauen schlagen sie die Zeit tot mit Ablenkungen, mit Verdrängungen, mit „Spielen“. Selbst Gott scheint unsere Welt verlassen zu haben und ist im Exil. Die nächsten kriegerischen Truppen stehen bereits wieder vor den Mauern der Stadt. Ich habe als eine der wenigen Generationen Deutschlands überhaupt keinen Krieg erlebt, keine Waffe in die Hand nehmen müssen.
Gewiss ist diese meine Art von Kommunikation, das Blog-Schreiben, eine Konzession an euch jungen Menschen dieser neuen Zeit und dieses neuen Zeitalters mit seinen elektronischen Lesegeräten und Kontaktmaschinen. Ja doch, ich sage Kontaktmaschinen, auch wenn sie meist nicht zu einem Kontakt führen, wie ich ihn mir vorstelle. Aber selbst ich kann mich damit anfreunden. Ich frage Siri nach dem Sinn des Lebens. Sie gibt mir vor allem in der englischen Fassung verblüffend nachvollziehbare und gute Antworten. Den ganzen Tag lang könnte ich so mit ihr plaudern.
Dass andere, jüngere Kulturen einen grenzenlosen Hass entwickeln auf diese Art von Verwirrung und Lebensglück, während man selbst noch nicht einmal weiß, wie man seine Kinder ernähren und groß werden lässt, das ist leicht einsehbar. Selbst der Eisenbahn-Express, der sich auf seinen unsicheren Schienen durch den afrikanischen Dschungel bis nach Süd-Afrika vorkämpft, zeigt den wenigen wohlhabenden Fahrgästen stolze Film-Beispiele des glücklichen American Way of Life in Form von Comedy-Serien wie „Two and a Half Men“, die bereits in vierzig Ländern gezeigt werden.
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Quo vadis, amerikanische Kultur, frage ich mich jedoch angesichts solch verstörender Comedy-Serien und Filme, die du uns jetzt als düsteres Spiegelbild deiner Heimat sendest, um auch good old Europe mit diesem Bazillus von existenzieller Fremdartigkeit und Inhumanität zu infizieren. Die Zerrbilder von Vergnügen und Sinnfindung, wie du sie in den Kapitalen deiner beiden Küsten produzierst und zelebrierst, schaden dir und deinem Ansehen in der Welt immens. Diese Art von Amerikanismus scheint trotz Google, Apple & Co ein Auslaufmodell. Man redet und denkt schon über das „postamerikanische Zeitalter“ nach. Was das bedeutet, wann wird das sein? Ist es gut, ist es schlecht? Alle Amerikaner, die ich kenne, würden lieber in Europa leben wollen…
… Und so sprach ich weiter und weiter mit den jungen Leuten. Wir drehten uns im Kreis und stellten fest, dass wir sogar die Sprache zum Sprechen und Verstehen unserer Gegenüber verloren hatten. Dass es fast keine Schnittmenge der Interessen und Wünsche und Lebensstile mehr gab und wir uns auch gar nicht mehr verständigen wollten.