19 Vom Denken I (Interview mit Jean François Lyotard))
Vom Denken
Das Denken des Denkens, also das Nachdenken über das Denken, ist nach Aristoteles die vorzüglichste Aufgabe der Philosophie und des Menschen.
Der Philosophie, weil es zum Erkennen von Wahrheit führt. Des Menschen, weil nur das Denken ihn abhebt vom Tier. Heftige Leidenschaften und Gefühle besitzen auch die Tiere, um sich selbst und ihre Art zu erhalten.
Doch in welcher Sprache und wie soll gedacht werden? – Mittlerweile hat jede Wissenschaft ihre eigene Sprache, ist damit festgelegt auf ihren Bereich, ihr Interesse, ihre Tradition. Es gibt neue Wissenschaften mit neuer Sprache, etwa die Linguistik oder auch Soziologie, und alte Wissenschaften mit alter Sprache, etwa die Philologie oder auch Mathematik (obwohl auch diese Sprache sich zumindest formal gewandelt hat).
Die Philosophie sehe ich nicht als eine Wissenschaft, sondern als eine Kunst an. Auch bei der Mathematik bin ich mir nicht sicher, ob ich sie als Wissenschaft bezeichnen soll, auch wenn sie die Sprache der (Natur-)Wissenschaft ist.
Sobald sich die Philosophie dem Diktat einer Fachwissenschaft unterwirft, etwa der Sprachwissenschaft mit ihrem sogenannten „Linguistic Turn“ (man hat sie dort schließlich als Philosophy of Science gänzlich kastriert) oder dem Diktat von Biologie (was ist biologisch Wahrheit, Schönheit, Geist?), Psychologie oder Theologie sich fügt, ist sie schon in einer Falle. Sobald sie sich widerstandslos und ohne skeptische Distanz – das heißt auch, sie hinterfragt nicht mehr das Woher und Wohin ihres Sprachspiels – missbrauchen lässt, ist diese große und altehrwürdige Kunst, die doch die Vertreterin von freiem Denken und Freiheit allgemein sein sollte, bereits unfrei und gefangen. Sie ist festgelegt auf die Vorstellungen der jeweiligen Spezialwissenschaften, die sich sogar gelegentlich bekämpfen, um deren Definition von Rationalität, Vernunft, Logik etc. durchzusetzen. Sie ist in der Falle des Relativismus. Das Denken wird zu einer Sklavin der begrifflichen Definitionen und Festlegungen, das heißt des aktuell vorherrschenden Dogmatismus (über die Besetzung der Begriffe wie Bahnhöfe siehe Blog Nr.3)
In welcher Sprache spreche ich? – Bin ich so ganz frei von Festlegungen, Relativitäten, Dogmatismen? – Ganz gewiss nicht. Jeder hat seine Wurzeln, seine Ursprünge, seine Spur. Wenn ich vernünftig argumentieren will, verständlich und nachvollziehbar auch, so bin ich doch immer schon irgendwie festgelegt auf ein Sprachspiel, einen Diskurs, der sich jedoch, so hoffe ich zumindest, von der Tradition, also der Philosophiegeschichte leiten lässt. Und wenn ich im Denken für ein Zurück zu den Vätern und sogar Vor-Vätern plädiere, das heißt zu deren Sprache, zu deren Begrifflichkeit und deren Texten, nicht jedoch unbedingt zu deren Problem-Lösungen, dann nur, weil ich dieses Vorgehen immer noch für nützlich halte, um das Denken des Denkens zu pflegen jenseits von Überlegungen zu elektronischen Gehirnhälften, unterbewussten Zwängen oder logistischen Dogmen.
Was hat es nicht schon die unterschiedlichsten Vorstellungen von Rationalität in der Geistesgeschichte gegeben. Platon ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein reiner Irrationalist, vollkommen undiskutabel und unverständlich. Alles, was sich gegenwärtig nicht auf 0 und 1 reduzieren lässt (noch schlimmer ist die streng geregelte Input-Output-Steuerung der Behavioristen), fällt durch das Raster, ist fast schon ein Taliban des Denkens. Eine wirkliche Sprachpolizei der „sauberen Begriffe“, des „sauberen Denkens“ wird in bestimmten Fakultäten unserer Hochschulen gedankenlos eingeschaltet und greift radikal durch. So geschehen selbst bei Philosophen wie Jacques Derrida, als er in Cambridge die Ehrendoktorwürde erhalten sollte (siehe meinen letzten Blog-Beitrag).
Philosophie sollte also dann und wann auch Kunst sein können, sein dürfen, und Kunst sollte Philosophie sein. Das macht sie auch gegenwärtig, und zwar in der Concept Art der Kunst oder in den Inszenierungs-Kunstwerken mancher Theater-Regisseure. Diese Flucht und dieses Ausweichen bleibt der Philosophie manchmal als einzige Möglichkeit, gehört zu werden. Zumal sie ja gerade in Deutschland immer mehr aus den Lehrplänen der allgemein bildenden Schulen verschwunden ist. Im öffentlichen Diskurs spielt sie scheinbar überhaupt keine Rolle mehr.
Ich füge einige Anmerkungen bei, wie sie mir der französische Philosoph Francois Lyotard in einem ganzseitigen Interview für die Berliner tageszeitung 1985 in der Stuttgarter Galerie Kubinski zu dieser Problematik gegeben hat. Ich war zum Zeitpunkt des Gesprächs noch ganz in der Frankfurter Schule beheimatet, also Apel und Habermas waren meine Leitsterne. Doch schon in meinem „Sinn“-Buch habe ich festgestellt, dass sich die beiden als Nachfolger von Horkheimer, Adorno und Marcuse „in die Höhle des Löwen (der Analytischen Philosophie) gewagt haben, in der Sprache ihrer Gegner die Auseinandersetzung und den Disput gesucht und – verloren“ hätten. Denn Dogmatiker kann man in der Sprache der Dogmatik nicht überzeugen (Reinhold Urmetzer, „Über die Sinnfrage“ S.134).
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Wie vernünftig ist die Vernunft?
Reinhold Urmetzer sprach mit dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard
Reinhold Urmetzer: Sie ästhetisieren ebenso wie andere Schriftsteller-Philosophen mit literarischen Kunstgriffen und einer ‚gemischten Sprache‘ die philosophische Sprache. Vernichten Sie damit nicht ganz die Philosophie, machen sie mehrdeutig und zur immer wieder auch anders lesbaren ‚Kunst‘?
Jean-François Lyotard: Sicherlich nicht. Ihre Frage setzt voraus, dass es eine philosophische Sprache als ein spezifisch philosophisches Idiom geben könnte. Ich verstehe nicht, was Sie mit philosophischer Sprache meinen. Es gibt keine Tradition des philosophischen Idioms. In Ihrer Fragestellung schwingt die Grundannahme mit – und dies scheint im deutschen Denken heute allgemein sehr verbreitet zu sein – ,dass die philosophische Sprache zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Notwendigkeit argumentativ zu sein hätte.
Aber ich denke, dass es, das klassisch-antike Denken eingeschlossen, viele philosophische Texte gibt, die nicht argumentativ sind. Wenn man so wichtige Texte wie die Metaphysik des Aristoteles oder seine Widerlegung der Sophisten aufmerksam liest, so ist diese Argumentation in keinster Weise klar. Noch nicht einmal unbedingt einleuchtend.
Oder denken Sie an Platon. Glauben Sie, dass seine Dialoge eine Ästhetisierung der philosophischen Sprache darstellen? Natürlich gehören diese Dialoge, die beispielsweise in der französischen Philosophie-Tradition des 18. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden, einer literarischen Gattung an. Viele Texte von Diderot oder Voltaire sind in Dialogform geschrieben. Ich könnte Ihnen auch Romane oder philosophische Tagebücher nennen – würden Sie etwa von Kirkegaards ‚Tagebuch eines Verführers‘ sagen, es sei eine Negation, eine Vernichtung der philosophischen Sprache? Es gehört zum klassischen Corpus der Philosophie. Oder nehmen Sie das ‚Sic et Non‘ von Abélard, es ist philosophisches Schrifttum und auch nicht immer so argumentativ, wie es sein sollte.
Akzeptieren Sie die argumentative Sprache in der philosophischen Diskussion der Gegenwart?
Natürlich. Ich denke, dass es für die Philosophie wesentlich ist, das argumentative Idiom im Corpus der Idiome vertreten zu haben. Aber ich glaube nicht, dass bestimmte Dinge im argumentativen Idiom gesagt werden können.
Es gibt Frage-Typen, die nicht zu diesem argumentativen Idiom gehören können. Dies aus einem sehr einfachen Grund, welcher auf keinen Fall ‚irrational‘ sein kann, wie das französischen Denken häufig von deutscher Seite her kritisiert wird. Ich beziehe mich wieder auf Aristoteles oder auf den Begriff der ‚Letztbegründung‘, wie Ihn Karl Otto Apel verwendet. Jede Argumentation beruht augenscheinlich auf der Evidenz bestimmter Argumente oder bestimmter Prinzipien, etwa des Satzes vom Widerspruch. Ebenso beruht sie, wenn auch in einem anderen Maße, auf dem Vernunftprinzip. Aber Aristoteles erläutert sehr gut im dritten oder vierten Buch der Metaphysik, dass über diesen Satz vom Widerspruch selbst nicht weiter argumentiert werden könne, weil er Grundvoraussetzung jeder Argumentation ist; man akzeptiert ihn oder man akzeptiert ihn nicht.
Das, was man rationale Argumentation nennt, ist im Grunde nur wieder eine Hypothese, die sich ein wenig zu sehr auf die Behauptung versteift, dass es außerhalb des Satzes vom Widerspruch keine philosophische Sprache mehr geben könne. Ich denke, das ist nicht wahr.
In Frankreich sind seit zwei Jahrhunderten Philosophen, die schreiben, Schriftsteller. Folglich ist die Beziehung zwischen Philosophie und Literatur eine sehr alte in Frankreich. In Deutschland hingegen waren die Philosophen überwiegend Universitäts-Professoren. Sie waren ganz wesentlich Professoren, damit war ein spezifischer und wichtiger Status umschrieben. Dadurch ist aber auch ein Diskurs-Typ festgelegt worden, welcher immer nur der eigene magistrale Diskurs war, während die französischen Philosophen niemals in der Tradition des magistralen philosophischen Diskurses standen. Es gibt solche natürlich auch in Frankreich, Philosophie-Professoren. Sie können hervorragend sein, aber sie sind Philosophie-Professoren. Hier gibt es einen sehr großen Unterschied in der Tradition unserer Völker.
der Erinnerung an Achim Kubinski
(13.7.1951- 17.12.2013)