236 Sextus Empirikus (1)
Zitate aus der Lehre der skeptischen Schule im spätrömischen Reich
Hier: Sextus Empirikus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis/Malte Hossenfelder (Suhrkamp Wissenschaft 499)
Sextus Empiricus war ein römischer Philosoph der Spätantike, dessen Bücher in der Zeit der „guten“ Kaiser von 180-200 n.Chr. erschienen sind. Er lebte in Alexandria, Rom und Athen und war einer der letzten „Akademiker“, also ein Anhänger der platonischen Akademie, die sich aber bereits schon seit langem immer mehr der Skepsis verschrieben hatte. Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wieviele Auslegungs- und Interpretationsprobleme Platons Werk bis auf den heutigen Tag macht.
Dogmatisch sind in der Definition von Sextus nahezu alle großen philosophischen Schulen des römischen Reiches, die an dem teilweise überhitzten intellektuellen Diskurs der Zeit sich beteiligten. Ausnahme bildet nur die eigene, die skeptische Schule, die manchmal auch etwas altertümlich nach dem Urvater der Skepsis die „Pyrrhoniker“ genannt wird.
1 Zitate
Relativität
Alles Gegebene verhält sich irgendwie relativ und ist nach verschiedenen Zeiten und Umständen bald zu wählen, bald zu meiden.
Lebensform
Gegen die These, dass eine konsequente Skepsis sich selbst aufhebe. Es gibt die philosophische Lebensform und die praktische Lebensform. Letztere kümmert sich wenig um philosophisches Denken, um Aporien oder Widersprüche und Isosthenien.
Wir folgen einer Lehre, die uns ein Leben nach den väterlichen Sitten, den Lebensformen und den eigenen Erlebnissen vorzeichnet.
Der Skeptiker kann, der unphilosophischen Erfahrung folgend, das eine wählen, das andere meiden.
Gleichwertigkeit der Argumente
Das Hauptbeweisprinzip der Skepsis ist, dass jedem Argument ein gleichwertiges entgegen gestellt werden kann.
Ich schreite zur Gegenargumentation, nur um die Gleichwertigkeit der Argumente vor Augen zu führen.
Sprachkritik: Über die Dinge reden oder schreiben ist etwas anderes, als sie zu sehen oder sinnlich wahrzunehmen
Wir fragen nicht nach dem Erscheinenden, sondern nach dem, was über das Erscheinende ausgesagt wird, und das unterscheidet sich von der Frage nach dem Erscheinenden selbst.
Verborgene Dinge
Dinge, die verborgen sind, beurteilen wir zurückhaltend.
Bei verborgenen Dingen maßen wir uns nicht an zu sagen, ob sie erkennbar oder unerkennbar sind
Der Skeptiker verwendet als methodisches Vorgehen die Zurückhaltung, wodurch Seelenruhe (Ataraxie) eintritt
Sich im Urteil zurück halten
Da die Klugheit erheblich und beinahe unendlich ansteigen und nachlassen kann, muss man immer auf das Urteil der später kommenden Klügeren warten und darf niemals den jetzt Überlegenen zustimmen
2 Beispiel für das methodische Vorgehen von Sextus im gesamten Buch: These und Antithese, Argument und Gegenargument, Beispiel und Gegenbeispiel werden gleichermaßen verteidigt (die Isosthenie)
Ob es eine Seele gibt
Nennen die Dogmatiker diesen Widerstreit, ob es eine Seele gibt, unentscheidbar, dann geben sie von selbst die Unerkennbarkeit der Seele zu.
Nennen sie ihn entscheidbar, mögen sie sagen, wodurch sie ihn entscheiden wollen. Denn durch die Sinneswahrnehmung können sie es nicht, weil sie behaupten, die Seele sei geistig. Sagen sie durch den Verstand, so entgegnen wir, dass der Verstand das Verborgenste ist, wie diejenigen beweisen, die sich zwar über die Existenz der Seele einig sind, über den Verstand aber uneinig.
Wenn Sie daher mit dem Verstand die Seele erkennen und den Streit über sie entscheiden wollen, dann wollen sie mit dem Fraglicheren das weniger Fragliche beurteilen und bestätigen, was unsinnig ist.
Auch durch den Verstand lässt sich also der Streit über die Seele nicht entscheiden. Folglich durch gar nichts. Wenn das aber so ist, dann ist sie auch unerkennbar.
3 Beispiel dafür, dass auch die Sophisten falsch liegen mit ihren Spitzfindigkeiten:
Anekdote gegen sophistisches Argumentieren (Trugschlüsse):
Als dem Sophisten Diodor einmal die Schulter heraus gesprungen war und er zum Arzt Herophilos kam, um sich heilen zu lassen, sagte dieser zu ihm im Scherz: „Entweder ist die Schulter, sich an dem Ort befindend, wo sie war, herausgesprungen, oder an dem, wo sie nicht war. Weder aber, wo sie war, noch wo sie nicht war. Also ist sie nicht heraus gesprungen“.
Daraufhin flehte der Sophist, diese Art Argumente zu lassen und ihm die Behandlung zuzuführen, die nach der Heilkunst zweckmäßig sei.
Es genügt, glaube ich, erfahrungsgemäß und undogmatisch zu leben und sich dabei über das, was aus dogmatischem Übereifer und weit außerhalb des täglichen Lebensbedarfs gesagt wird, zurück zu halten.
Die Erfahrung des Nützlichen in der Lebenspraxis führt oft in der jeweiligen Sache die Auflösung einer Gleichwertigkeit herbei.
4 Gott in der Antike
Die Götter anzuzweifeln war zeitweise ein Kapitalverbrechen. Sokrates ist auch deswegen zum Tod verurteilt worden. Dennoch bildeten sich bald Schulen, etwa die Epikurs, welche sich zumindest skeptisch dem antiken Gottesglauben gegenüber zeigten und dennoch keine politischen Probleme bekamen. Im Gegenteil: Neben den Stoikern war die Schule Epikurs die beliebteste und einflussreichste in der Spätantike.
Sextus beweist zwar, dass man Gott weder beweisen noch nicht beweisen könne. Im täglichen Umgang damit erweist er sich jedoch als pragmatisch.
Da nun die Mehrzahl Gott die wirksamste Ursache nennt, so will ich nun Gott betrachten, nachdem ich voraus geschickt habe, dass wir zwar, dem täglichen Leben folgend, undogmatisch Götter annehmen und verehren und ihre Vorsorge gelten lassen, dass wir aber gegen die Voreiligkeit der Dogmatiker folgendes anführen…(s.auch Teil 3)
5 Sinn und Ziel
Fragt man die Dogmatiker, was das Gute sei, so geraten sie in unversöhnlichen Streit, indem die einen sagen „Tugend“, die anderen „Lust“, die dritten „Schmerzfreiheit“, die vierten noch etwas anderes. So sind sogar die Namhaftesten unter den Dogmatikern über den Begriff des Guten nicht einig, und ebenso sind sie sich auch über das Übel nicht einig geworden.
Nicht zu reden von den Laien, von denen die einen körperliches Wohlbefinden für ein Gut halten, die anderen den Beischlaf, die dritten Völlerei, die vierten Trunkenheit, die fünften Würfelspielen, die sechsten Habsucht, die siebten noch geringere Dinge als diese.
Von den Philosophen begrüßen die einen die Lust als ein Gut, während andere sie geradezu ein Übel nennen, so dass ein Philosoph sogar ausrief: „Lieber möchte ich wahnsinnig sein als Lust zu empfinden“ (der Kyniker Anthistenes)
6 Seelenruhe (Ataraxie)
Die Seelenruhe war fast in allen philosophischen Schulen das höchste Gut. Heute würde man sagen: kein Stress, keine heftigen Emotionen, gleichmütig bleiben den Sorgen der Welt und Allgemeinheit gegenüber; die verbreitete Möglichkeit zum Wohlleben genießen und keinem übertriebenen Luxus frönen. Auch im Umgang mit Lust mäßig bleiben.
Als Philosoph und Denker soll man sich um die Seelenruhe kümmern; im praktischen Leben jedoch sich „über das Unausweichbare keine Gedanken machen“ und ein gewisses Maß an Leid aushalten lernen.
Das Ziel des Skeptikers ist die Seelenruhe in den auf dogmatischem Glauben beruhenden Dingen, denn sie sind allesamt ungewiss. In den aufgezwungenen Dingen ist sein Ziel das maßvolle Erleiden der Schmerzen.
Vgl.auch Sextus Empirikus (1) in Nr. 232: „Über Isosthenien“