253 Über Venedig
Brief an Lucilius Nr. 11
Nie wieder Venedig! – Einverstanden.
Schrecklich voll! – Genau.
Heiß, stickig, überteuert. Das Wasser stinkt im Sommer. –
Alles richtig. Und dennoch auch wieder manchmal falsch.
Seit meiner Studentenzeit besuche ich diese Stadt nur zu einer einzigen Jahreszeit, an die ich mich immer gehalten habe. Dieser Zeitpunkt ist ideal. Es sind die wenigen Tage nach Neujahr, am besten sogar nach Dreikönig (6.Januar), und bis ein zwei Wochen vor Karneval. Jetzt gehört die Stadt dir. Die Weihnachts-Touristen sind abgereist, die Ferien gehen überall zu Ende. Entspannt lehnt sich die Serenissima zurück für eine Verschnaufpause. Die Menschen sind freundlich, genießen die Leere, die Stille. Und wie immer und anders als im trüben November entdecken sie selbst wieder und für sich das Licht, das Wasser, die Kanäle, die überzeitliche Schönheit dieser Stadt. Selbst der Flugzeug-Steward hat angefangen zu singen beim Öffnen der Bord-Luke nach der Landung des Flugzeugs auf dem Flughafen. Tatsächlich! – Natürlich bin ich in einem Museum angekommen, einem künstlichen Traum, der fast an die Disney-Parks dieser Welt heran reicht. Europa wird das Disneyland der Zukunft, hat mal ein Chinese aus Peking schon vor zehn Jahren zu mir gesagt.
Und trotzdem liegt ein Zauber der Nostalgie auch über dieser Stadt, ein Zauber der Erinnerungen an die Zukunft und damit auch an das vielleicht, was wir in unserem täglichen, durch rationalisierten und modernistischen Leben verloren haben. Es sind die vielen kleinen Handwerksbetriebe und Läden, die anderswo von den großen Ketten und Supermärkten bereits verschlungen worden sind. Es sind die immer noch zahlreichen Cafés und Restaurants, bei denen zum Genuss auch das Zeremonielle, Rituelle, das selbst Hergestellte mit dazu gehören.
Vor allem aber ist es für mich das Phänomen der Entschleunigung, das entschleunigte Fortbewegen mit dem Schiff (Vaporetto) oder meist auch per pedes. Die Paradoxie der Postmoderne: Wir bewältigen mit dem Flieger für weniger als 40€ eine Strecke von fast 800 Kilometern in knapp einer Stunde. Und in Venedig angekommen braucht es fast die gleiche Zeit, um von der Piazzale Roma, dem Ankunftsort des Flughafen-Busses, mit dem Schiff ins Zentrum nach San Marco, wenige Kilometer nur, zu gelangen. Hoch über den schneebedeckten Alpen und jetzt auf dem Kanal an majestätischen Palästen der Vergangenheit vorbei mit so klingenden Namen wie Palazzo Vendramin, Palazzo Grassi, Pesaro…
Für Wissende und Geistesarbeiter wie mich sind das geballte Erinnerungen und Aha-Erlebnisse. Ich nenne nur so geschichtsträchtige und wie Batterien aufgeladene Begriffe: Konstantinopel, Marco Polo, Tintoretto, San Marco, Gabrieli… Immer noch Meilensteine, aus denen sich unser, das ist abendländisches Denken bildet und zusammen setzt. Selbst wenn ich am Rotebühlplatz einen Hamburger verschlinge, Nachrichten auf den Bildschirmen verfolge oder Rockmusik mit tanzenden Pseudo-Stars, die mir etwas vom Sinn des Lebens vorgaukeln, aushalten muss. Nirgendwo sonst spüre ich das (vergangene) Abendland so deutlich wie hier. Selbst wenn ich fast nie Kirchen oder Museen in Venedig besuche. Wirklich! –
Was machst du dann in dieser Stadt, fragt mich ebenso wie du, Lucilius, immer wieder auch Marina Chistiakowa, eine gebürtige Moskauerin. Was habt ihr unternommen, besichtigt. Sie hat in Venedig studiert, über die Musik Luigi Nonos geforscht, der hier auf einer eigenen Insel in der Lagune gelebt und gearbeitet hat und die wohl einen festen Plan, eine „Struktur“ braucht, um nicht von Leere und Langeweile in die Zange genommen zu werden.
Es reicht, in den kleinen Schiffen zu sitzen, antworte ich, hierhin dahin dorthin zu fahren, am Wasser entlang zu spazieren, dann einen Café trinken irgendwo außerhalb; es schneit. Die Venezianer, sie scheinen sehr lebendig, lebensfroh, beweglich, hasten bei kaltem Wetter (für mich ist es noch gar nicht mal so kalt) in ihren dicken Mänteln an einem vorbei. Oder ich balanciere auf den Stegen herum bei Hochwasser, um nicht nach unten zu fallen. Und schaukele dann doch wieder in einem der vielen Boote gemächlich irgendwo hin. Zur Bus-Fähre und zum großen Damm vielleicht bei Santa Maria del Mar. Oder zum Kloster der Armenier samt seinen faszinierenden Geschichten und Erzählungen.
Venedig ist inspirierend, selbst als Antithese. Ich habe schon sehr viel hier geschrieben und produziert, nicht vergleichbar mit Ostende, das mir zu einer anderen Jahreszeit und in einer anderen Tonart ebenfalls sehr gut gefällt. Es hat auch gar nichts zu tun mit Morbidezza oder Melancholie und Schwermut à la Thomas Mann (Tod in Venedig). Im Gegenteil. Die Stadt ist Italien, und Italien ist der Süden, das Lichte, Helle; es sind Lebensgenuss, Freude, Sinnlichkeit und die unvergleichliche Musik seiner Sprache. Ich übertreibe, gewiss. Die Italiener selbst werden das Gegenteil behaupten wollen und erst recht all die Gestrandeten und Migranten auf ihren abfahrenden Schiffen von Outre-Mer. Mit gutem Grund. Die Finsternisse der Zukunft stehen bereit, ein bekanntes Reich. Aber für uns transalpine Germanen und Coca-kolonialisierte Barbaren ist und war das cisalpine Italien meist immer das schlichtweg Andere.
Wie umgekehrt auch Germania für meine Verwandten in Livorno (Toscana), mit denen ich aufgewachsen bin und woher ich das Land so genau kenne. Auch seine Schattenseiten. Über die ich aber jetzt, unter diesem sonnenklar kalten Winter-Himmel bei San Samuele und dem Theater La Fenice mit seinen freundlich lächelnden und manchmal vor sich hin singenden Menschen, mit all diesen Farben und Formen und Versprechungen einer vergangenen und vielleicht doch auch wieder zukünftigen Welt, keine weiteren Worte mehr verlieren oder verschwenden werde.
Unter „Mitteilungen“ werden einige konkrete Tipps für eine Venedig-Reise folgen.
Buchempfehlung: Wilhelm Hausenstein, Hauptstädte Europas. Eine literarische und für Touristen eher ungeeignete Beschreibung der europäischen Hauptstädte (1932). Immer noch gültig. Sein Stil hat mich zu diesem Text inspiriert.