297 Novellen zur Zeit (7)
Das Tanzen
Wir sollen tanzen. Das bedeutet: mit der Sinnlosigkeit spielen. Die Buchstaben zaubern ihr Ziel heraus, die Distanzen fallen oder leben wieder auf. Unverständliches produzieren wie der Schriftsteller Jean Paul, Isosthenien aufstellen wie die Philosophen der Spätantike, indem man sich der Logik verweigert, die Selbstverständlichkeiten weggefegt, Postulate umstürzt und die Leere erschafft, welcher man die dunklen Geheimnisse zu entreißen sucht.
Du stehst auf der Tanzfläche wie auf der Leinwand der Malerin(1). Versuchen wir das ungewöhnliche Experiment, tanzen wir diesen Maskentanz, ob es uns gelingt, auch wenn die Wunde schmerzt und die lapidaren Töne der Popmusik wieder und wieder durch das Fenster schallen.
Werden wir uns so abbilden können in Farben, in Formen, ohne uns dabei zu verlieren oder doch Teile von uns aufgeben und vermissen zu müssen? Wird unser Gefühl, unser Körper, der ganze lebensgeschichtliche Kontext mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen, wird dies alles mit einfließen können in das fremdartige Kunstwerk eines Maskentanzes? – Wir füllen im Tanzen die Lücken, welche die Worte in den Sätzen und Texten und Erörterungen lassen. Lücken füllen, Lücken bilden, Lücken lassen als Pause, als die Strukturierung der Stille, die Parodie von Sinn und Sprache, auch als das Nichts im semantischen Sinn. Musik, immer wieder Musik in diesen Worten, Sätzen und Gedanken. Immer wieder Musik.
Wir treffen seltsame Versteinerungen auf den Bildschirmen, in der Nachtbar, auf den Straßen, im Café. Sie machen uns Angst, weil sie unnahbar und unmenschlich, vielleicht auch schon tot sind. Geschminkt und fein gekleidet lieben sie die Sprachlosigkeit, weil sie selbst feine und hübsche Kannibalen sind, die auf Menschenfleisch verzichten und die Verführung nur noch um der Verführung willen suchen. Von ihren Masken werden sie nicht mehr verunstaltet oder entfremdet, weil ihnen die Verunstaltung und Entfremdung bereits zur reinen Schönheit geworden ist und weil sie voller Künstlichkeit sind, auch wenn die Farbe der Haut schon etwas ab blättert.
Wie soll man mit solch abenteuerlichen Gestalten, sofern sie überhaupt existieren, zusammen leben, mit Ihnen reden, wie sie lieben können? Hübsche Kannibalen, fein gekleidete Analphabeten, verzauberte Priester, apathische Intellektuelle, körperbewusste Schönheiten – wer sagt, in der heutigen Zeit könne man keine Wunder mehr erleben oder außergewöhnliche Beobachtungen machen?
Ihnen die eigene Melodie vorspielen und sie tanzen lassen, empfehlen die orthodoxen Ideologen. Vielleicht gelingt diese Strategie dann und wann, etwa im Ostblock oder in den USA. Andere beten wieder, glauben wie in den zwanziger Jahren an morphogenetische Felder oder übersinnliche Wahrheiten. Verbesserungen, Veränderungen in unserem Leben und in dieser Gesellschaft seien in kleinen Schritten und unmerklich nur zu erreichen, behaupten andere. Jedes überstürzt Neue sei gefährlich; besser auf die Tradition vertrauen und ihren Erfahrungen und Weisheiten. Änderung oder dynamische Entwicklung sei nur eine Kategorie unserer Anschauung, predigen wiederum die Philosophen des Subjektivismus, und nichts mehr.
Ich glaube nicht, dass es gelingen wird, was sie alle uns in den Kopf setzen, gesetzt haben oder setzen werden (womit die grammatikalischen Möglichkeiten ausgeschöpft wären). Die Farben fließen, alles verliert sich in einem weißen Kreis oder im Schein des Neonlichts, das glühend wie ein halb gelöschtes Eisen aus dem Duft und dem Wasser hervor kommt, um immer heller und düsterer zu leuchten: Solch ein Grauen wohnt in der Tiefe der unnennbar fremden Welt, die sich nicht fügt, sondern uns zu ihrer Belustigung braucht, schreibt der romantische Dichter. Viele Melodien deuten auf einen untergegangenen Tanz, sagt er, die nieder gelegte Sehnsucht wie Schwarz in Weiß oder Blau in Gelb. –
Als sie ihre seidenen Kleider ausgezogen hatten, stolzierten sie schweigend vor den Spiegeln umher. Unfähig zu allem, zum Gespräch, zum sexuellen Verlangen, zum Traum, hatte eine große Müdigkeit sie erfasst und ihre Aktivität gelähmt. Die Mauern, woran sie sich abzeichnen wollten, rückten näher, entfernten sich, rückten wieder näher und selbst die Wolken waren nicht mehr gut zum Fliegen. Wenn wir nur endlich wüssten, dass wir bloß träumten!
Kann uns die Musik, kann uns das Tanzen einen Schritt weiter bringen? – Wir können uns begleiten, wohin immer wir wollen, das steht fest. Andere können das nicht. Aber wir können uns nicht der falschen Begriffe entledigen, sie totschlagen oder ihre Rätsel auflösen, wie wir den Radioapparat, den Computer abschalten oder die Mathematikaufgabe aus dem Infinititesimal-Bereich nicht zu Ende führen.
Was bleibt also vom Absoluten, wenn wir mit der Sinnlosigkeit getanzt und gespielt haben? – Was ist Öl?(2) – Anfang und Ende der Haar-Frisuren, könnte man in diesem illustren Kreis vor mir jetzt hintergründig unterstellen (ich erschrecke bereits über diesen meinen Vergleich).
Oder: Im alten Rom ölten sich die körperbewussten Einwohner des Mittelpunkts der Welt nach jedem Thermenbesuch ein, bevor sie sich abschaben ließen.
Was also bleibt uns vom Absoluten?
(1) Die Malerin Gabriele Kleefeld hat dergestalt große Tanzbilder hergestellt und zusammen mit Diskobildern im Theaterhaus Stuttgart im Jahr 1986 ausgestellt.
(2) Öl – Was bleibt uns vom Absolutem? So lautete der Titel eines Vortrages, den ich wie jetzt auch gekürzt und auszugsweise 1987 in der Blaubeurener Galerie Rieber anlässlich einer Ausstellung von Karin Geschke gehalten habe.
Im Anschluss daran hat mich ein junger Besucher angesprochen. Jetzt müsse ich aber wirklich aufhören mit dem Schreiben und Sprechen und Vorträge-Halten, wenn ich an einem solchen Ende von geschriebener Sprache, Rede und Verständigung angekommen sei. – Die größte denkerische Leistung des Abendlandes sei, meinte auch Derrida anlässlich eines Vortrages über „Die rechte Hand Heideggers“ (Passagen) und er lächelte dabei – das Schweigen.
Zu diesem Tanzen-Text habe ich ein persönliches Schreiben vom Schriftsteller Wolfgang Harig erhalten mit der Aussage, für ihn gäbe es nichts Schöneres als mit der Sinnlosigkeit zu spielen.