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Musikgrafiken
In den letzten hundert Jahren waren besonders die Maler häufig neugierig und mutig
genug, über die Grenzen der eigenen Disziplin zu blicken; sei es (wie Kandinsky),
um von den Musikern zu lernen, wie man mathematisch genau und »abstrakt« künstlerisches
Material zusammensetzen (»komponieren«) könne, sei es, um sich vielfaltigen Einflüssen
aus anderen Sparten offenzuhalten. Sie waren bereit, die herkömmlichen Grenzen der
Malerei zu verlassen, um mit Happening, Fluxus oder Land-Art, um nur einige Richtungen
zu nennen, Neuland zu betreten. Wahrnehmung sei nicht teilbar, argumentieren die
zeitgenössischen Multi-Media-Künstler, ebenso wie sich auch bei der zwischenmenschlichen
Kommunikation die Dialoge auf mehreren Ebenen abspielten: nicht nur sprachlich-akustisch,
sondern ebenso sehr auch gestisch oder visuell. Und diese verschiedenen Wahrnehmungsbereiche
wieder zusammenzufügen mittels Klang, Bild, Text und Gestik sehen viele der grenzüberschreitenden
Künstler der Gegenwart als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an.
Auch die Musik wagte es zuweilen - seltener nur - über den Schatten ihrer Vergangenheit
zu springen, indem sie sich von alten Vorstellungen über »schone« und unterhaltende
Musik loste und stattdessen Geräusche, Umweltlärm, zufällige Klangkombinationen und
die Gleichwertigkeit der Dissonanz in den Begriff von Musik mit aufnahm. Wesentlich
gelang ihr diese Losung von der alten Begrifflichkeit auch dadurch, daß sie sich
von den herkömmlichen Zeichensystemen und Notationsformen trennte, die sich historisch
gesehen immer schon in ständiger Um- und Weiterentwicklung befanden und in den fünfziger
Jahren ihre letzten und einsamen Hohepunkte an Komplexität erreichten.
In den sechziger Jahren wurde dieser Konstruktivismus, dessen Wurzeln bereits bei
Schonberg zu finden sind, musikalisch von einem abstrakten Expressionismus abgelöst.
Dieser war weniger um die geistige Struktur der Komposition im Sinne einer Musikmathematik
als um direkte Vermittlung, Spontaneitat und Improvisation bemüht. Das Publikum hatte
sich zudem außermusikalischen Faktoren und theatralischen Einlagen zu öffnen, welche
den traditionellen Begriff des musikalischen Kunstwerks nach Schonbergs Tonalitäts-Revolution
abermals in Frage stellten und ausweiteten, ebenso wie sich auch die Aufzeichnungsform
für solche Ereignisse radikal geändert hatte.
Im Bereich der musikalischen Notation stellt die Musikgrafik eine Sonderentwicklung
dar. Earle Browns «December 1952« gilt als die erste grafisch notierte Partitur,
Roman Haubenstock-Ramati hat das Prinzip etwas später in Europa entwickelt. Die Musikgrafik
ist primär eine Partitur, ein Zeichensystem für musikalische Ereignisse und Handlungsanweisungen
für den Interpreten mit mehr oder weniger eindeutig festgelegten Zeichen. Die präzise
Notation und Eindeutigkeit der Zeichen, wie man sie aus der traditionellen Notenschrift
gewohnt ist, wird häufig zugunsten einer erweiterten Interpretationsfreiheit aufgegeben.
Die grafische Gestaltung spielt dabei zunehmend eine bedeutende Rolle: Je beliebiger
und freier die Musikzeichen werden, umso wichtiger wird die assoziative Komponente
und um so starker wird sie die Realisierung der Grafik durch den Interpreten beeinflussen.
Gestaltung der Partitur und Anordnung der Zeichen können schließlich vollkommene
Selbständigkeit erlangen und die musikalisch-akustische Funktion der Grafik kann
schließlich zugunsten der optisch-visuellen mehr oder weniger, im Extremfall sogar
ganz, zurücktreten. Solche Grafiken können - in gewissen Grenzen - jeweils beliebig
und immer neu interpretiert werden. Auch der Schritt zur Visuellen Musik ist für
geübte Augen und Ohren von hier aus nicht mehr weit: Rein optisch provozieren viele
Bilder bereits einen Höreindruck, das Aufgezeichnete braucht nicht mehr zu erklingen,
es lebt bereits in der Imagination des Betrachters (»Hörbilder«, »Hörtexte«).
Fast alle Exponate der Ausstellung gehören intermedial mehreren Bereichen an: Primär
gedacht als Partitur für Musikinterpreten samt szenisch-theatralischer Einschübe
entdeckt man häufig das konstruktive Vorbild aus den zwanziger Jahren (Kandinsky),
ebenso wie man auch an die Buchstabenkunst der Futuristen oder Elemente der Visuellen
Poesie erinnert wird. Einige der Bilder stehen mit der Kühle ihrer abstrakten Zeichen
und lapidaren Schwarz- Weiß-Farbigkeit in eigentümlichem Gegensatz zum expressiven
musikalischen Ausdruck, der gesucht wird. Dauer sowie instrumentale Besetzung der
Komposition sind häufig freigestellt. Die Thematik der Werke bleibt teils immanent
musikalisch, teils bewegt sie sich aber auch in außermusikalischen Bereichen. Positiv
ist zu verzeichnen, daß sich immer mehr die typischen Zeichenmuster durchsetzen,
an die sich Komponisten wie Interpreten halten müssen, soll nicht die ganze Idee
in einer babylonischen Sprachverwirrung ersticken. Schwarze Farben bedeuten mittlerweile
durchweg große Lautstärken (im Gegensatz zu Weiß), Verdichtungen bedeuten ein Schneller-
Werden, Kreise sind punktuelle Aktionen, Rechtecke definieren Klangflächen, um nur
einige Zeichen zu nennen.
Musikalisch war die Musikgrafik eine Reaktion auf den seriellen Konstruktivismus
der fünfziger Jahre. Seine Material-Strukturierung beschränkte sich, im guten Sinn
aller Formalisten, auf Kunstgriffe in betont mechanisch-abstrakter Weise. Wesentliche
Aufgabe des Zuhörers war es, diese Kunstgriffe der konstruktiven Werkgestaltung
intellektuell nachzuvollziehen. Zu kurz kam häufig dabei das emotionale Mit- und
Nacherleben der Aussage eines Menschen, welcher sich in der Gesamtheit seiner Existenz
nicht nur mit Zahlen und abstrakten Formproblemen auseinandersetzen will. Mit der
Musikgrafik kamen dank der eingeplanten improvisatorischen Elemente wieder Spontaneität
und Ausdruckswille der Interpreten zur Geltung, die zwar - gemessen an dem traditionellen
Hörverständnis - immer noch abstrakt und subjektiv vermittelt, vom Publikum aber
dennoch leichter nachzuvollziehen waren.
Abzugrenzen sind Musikgrafiken von Musik-Nachzeichnungen, die recht genaue Aufzeichnungen
akustischer Ereignisse liefern und auch von Computern durchgeführt werden können.
Im Gegensatz zur Musikgrafik, welche die zu erklingende Struktur vorgibt, zeichnet
die Musikzeichnung eine vorgegebene Struktur nach oder überträgt, um eine modische
Variante zu nennen, akustische Schwingungen etwa einer Mozart-Sinfonie auf Textilien.
Musikgrafiken sind außerdem nicht zu verwechseln mit Collagen aus dem Bereich von
Grafik und Malerei, wo einzelne musikalische Zeichen oder ganze Partitur-Ausschnitte
collagenhaft in das Gesamtbild mit einbezogen sind. Diese Arbeiten verstehen sich
nicht als Partituren für Musiker, sondern verwenden die musikalischen Zeichen primär
für außermusikalische Zwecke - ein wichtiges Abgrenzungskriterium gegenüber dem Bereich
der visuellen Kunst.
Historisch scheint die Musikgrafik mittlerweile ein abgeschlossenes Phänomen.
Jüngere Komponisten greifen wieder auf alte und traditionelle Notationsformen zurück,
auch auf die Gefahr einer bewußten Regression hin. Eine Endstufe markieren auch solche
Formen der Visuellen Musik, die im Sinne der musikalischen Concept-Art eine Musik
erfinden, welche nicht mehr aufgeführt werden kann, um so die Materialisierung der
Idee auszuschließen. Auch meldeten sich Musiker zu Wort, die das Erreichte wieder
ironisch in Frage stellten, wenn sie an bestimmten Stellen der Partitur bildnerische
oder sprachliche Elemente zersetzend einbauten. Für die Befreiung der Musik aus ihren
konstruktiven Zwängen war die Musikgrafik jedoch wichtig und damit richtungsweisend
bei der Entwicklung einer Musik, die wieder mehr auf den Hörer zugeht. Und nicht
nur auf den Hörer, wie die Ausstellung beweist, wo Musiker erstmals ihre Werke in
einem privaten Bereich der visuellen Kunst präsentieren.
Reinhold Urmetzer